Detlef Karsten – Nicht jedes Genie wird weltberühmt

Er wurde zu Lebzeiten für seine fast kindliche Suche nach seinem Eigentlichen belächelt oder auch gescholten, und vielleicht erscheint manchem dieses Karstensche Eigentliche als banal, frivol, unerwachsen.

Das ist völlig unwichtig – ein Leitbild ist der 2017 viel zu jung und an den Folgen einer unheimlichen Seuche, einer Sepsis, verstorbene Detlef Karsten in seiner unbeirrbaren Suche nach seinem Eigentlichen ... 

Ein bekannter Künstler erzählte kürzlich, dass die Eltern einer 16-jährigen, zeichnerisch einigermaßen begabten Tochter einen ihnen bekannten Kunstprofessor um Tipps für deren künstlerische Karriereplanung angingen. Kolportierter O-Ton: „Kunst scheint ja das neue Tennis zu sein, unsere Tochter ist sehr begabt, was müssen wir nun tun, damit sie es in die erste Reihe schafft?“

Es gibt sicherlich viele Gründe, Motivationen und Zufälle, die einen Menschen Künstler/in werden lassen – und der häufigste, vielleicht einzig wirkliche ist: Er oder sie kann nicht anders. Ein Spekulieren auf finanziellen Erfolg dürfte der Aussicht auf einen Lebenslauf als Künstler/in eher abträglich sein. Und planen lässt sich ein Erfolg weder durch beste Ausbildung noch prominenteste Lehrer – wen interessiert schon ein schlechtes Bild, auch wenn es von einem Schüler von Grützke oder Hrdlicka gemalt worden wäre?

Bei Detlef Karsten kam es, anders als bei unserer 16-Jährigen von oben, durch seine Entscheidung für ein Leben als freischaffender Künstler zum Zerwürfnis mit seinen Eltern, das seinen Niederschlag in einem bitteren Brief des Vaters an den Sohn anlässlich dessen 28. Geburtstag fand. Nachzulesen ist dieser in einem Buch, das 1987 eine Jugendfreundin des Künstlers als Diplomarbeit für ihr Grafikdesign-Studium in kleinster Auflage erstellte.

Dort finden sich auch verblüffend endgültige Aussagen des Künstlers, der sich elf Semester durch ein Kunsterzieherstudium gequält hatte, bevor er es abbrach. Eine mühsam erkämpfte „Entscheidung für die Unvernunft“, wie er es nannte. Rückblickend haderte er mit der als vergeudet empfundenen Lebenszeit. Er fühlte sich durch das Studium in die Defensive gedrängt und „in eine Ecke, in der die Beweislast des Lebenssinns bei mir lag und nicht bei der Kultur, in die ich geboren bin“.

Er versuchte sich nun an einem Studium der freien Malerei an der Frankfurter Städel-Kunsthochschule. Es heißt, dass er zum Aufnahmegespräch ohne die an sich obligatorische Mappe (mit bildnerischen Talentproben) antrat, aber dort die Chance bekam, seine Zeichenkunst spontan vorzuführen. So sei er der erste und einzige Künstler gewesen, der jemals ohne Mappe am Städel angenommen wurde. Dieses Studium beendet er schon nach 3 Semestern, denn „auch hier wollte Kunst bewiesen werden, drückte sich Sinnlichkeit in Scheinen aus“. Und das Studium sei seinem Ziel, ein Nichtsnutz zu werden, nicht förderlich. Der Nichtsnutz, das war sein Synonym für einen, der sich der Verwertung und der Korrumpierbarkeit, dem Nutzbarsein entzieht.

Mit diesem Statement endete Detlef Karstens Programmatik. Er verstand sich ab 1987 als freischaffender Künstler und folgte nun ausschließlich den Impulsen, die ihm seine unerfüllten Sehnsüchte und seine Lust am Spielerischen eingaben. Formal setzte er sich mit seinen Vorbildern Gustav Klimt, Egon Schiele und Horst Janssen auseinander, die er teilweise regelrecht coverte, aber wie in der Musik entstand bei ihm aus der Vorlage einer schon bekannten Melodie etwa Neues, Eigenes, etwas, das Detlef Karstens Handschrift trug.

Detlef Karsten war einer, der zeichnete in unverkennbar eigenem Stil auf dem Niveau der großen Meister des 20. Jahrhunderts, der holte mit der Kettensäge übermannshohe Skulpturen aus Baumstämmen, bog im Handumdrehen aus einem Stück Draht ein Selbstportrait, malte in Life-Performances zu Jazz mit dem 2 Meter langen Pinsel ansehnliche Bilder auf aufgespannte 3 x 3 Meter große Tücher.

Warum, werden Sie vielleicht fragen, ist der Mann nicht weltberühmt? Es geht das Gerücht, das sei so gewesen: Als der liebe Gott die künstlerischen Fähigkeiten verteilte, rief Detlef Karsten gleich dreimal „Hier!“ Und weil er danach mal dringend raus musste, verpasste er die Verteilung der Fähigkeiten, mit denen man den Alltag bewältigt.

Tatsächlich schaffte er es nie, einen Katalog zu produzieren, die Zusammenarbeit mit einer Galerie lange auszuhalten oder auch nur zu verhindern, dass ihm wegen Zahlungsrückständen das Telefon abgestellt wurde. Gegen Monatsende verkaufte er im Treppenhaus Bilder zu Schleuderpreisen an die anderen Hausbewohner, um die Miete bezahlen zu können. Wem sich nun das mitfühlende Herz zusammenkrampft: Er hat darunter nicht gelitten!

Denn auch wenn das jetzt wie Westernkitsch klingt: Das Wichtigste für ihn war die Freiheit, nur das zu tun, was er wirklich wollte. Dass er damit wirtschaftlich nicht gerade auf Rosen gebettet war, akzeptierte er, den persönlichen Preis für wirtschaftlichen Erfolg zu zahlen war er hingegen nicht bereit, Verbindlichkeit im doppelten Sinn für ihn ein Fremdwort.

Auch das „Feine“ in der Kunst mochte er nicht, seine Bilder – Ölpigmentmalerei auf Papier zumeist – strotzen von Öl- und Farbflecken an Stellen, die mit der Bildgestaltung nichts zu tun haben. Am Anfang legte er seine Bilder mit noch feuchter Farbe auf dem Fußboden aus und seine blinde Katze trug mit ihren Pfoten die Farbe von einem Blatt zum anderen. Das passte freilich durchaus auch in die 80er, als die Jungen Wilden ihre Farbnasen die Leinwand runterlaufen ließen. Nur wirkt das bei Detlef Karsten nicht artifiziell, sondern wurstig. Und genau das wollte er wohl auch so.

Manche/r mag auch angesichts eines stark veränderten gesellschaftlichen Klimas seine erotischen Sujets als unfein empfinden, man kann sie aber auch als liebenswerte Zeugnisse lebenslanger erotischer Sehnsucht des Künstlers lesen, dessen Frauenfiguren stark, souverän und strotzend vor Selbstbewusstsein sind. Daneben gibt es die zerbrechlichen Frauen, Mädchen, die so anrührend verletzlich wirken, dass man sie sofort in den Arm nehmen und beschützen möchte. Starke Männer gibt es in Detlef Karstens Bildern nicht.

Um die Jahrtausendwende kamen die Tiere in seinen Themenkanon – sie hatten schon 15 Jahre vorher eine Rolle gespielt, aber eher im Kontext: der Stier, von dem Europa abgestiegen war, die herumtapsende Katze, der gierige Schwan, der Leda umgarnte. Jetzt wurden es autonome Portraits, beseelte Tier-Persönlichkeiten, die wie die Menschen auf seinen Bildern unweigerlich berühren. Seine Eselbildnisse, von denen eines auch im Tabor Kalender zu finden war, ein anderes im Büchergilde artclub, lösten teilweise einen regelrechten Run aus, kaum dass er die Lkw-Türen bei Anlieferung einer Ausstellung öffnete.

Glückliche Umstände und ihm zugetane Lebensbegleiter erlaubten ihm, ein weitgehend ungeregeltes Leben führen zu können, zwar immer am Rande des Existenzminimums, ohne bürgerlichen Rahmen, lange sogar ohne Krankenversicherung, aber so frei wie kaum jemand. Und das in so schöner Umgebung wie auf der Insel Ibiza, wo er von 2000 bis 2004 lebte, oder auf dem allein stehenden Gehöft unter hohen alten Bäumen in Verl in Ostwestfalen, wo er dann bis zu seinem frühen Tod am 17. Januar 2017 lebte.

Gestorben ist der Künstler einen Tag vor seinem 59. Geburtstag an einer möglicherweise zu spät erkannten oder falsch behandelten Sepsis. Uns mögen die apokalyptischen Ausmaße der Corona-Pandemie als größtmögliche Horrorvision vor Augen stehen, ich kann es mir dennoch nicht verkneifen, diesem tragisch frühen Tod von Detlef Karsten wenigstens den Trost einer Warnung für andere abzuringen.

Auch wenn es aussieht wie das Wettrennen um den Todesfall-Superlativ: Laut einem Bericht der FAZ vom 18.1.2020 sterben weltweit jährlich 11 Millionen Menschen – von 49 Mio. Erkrankten – an einer Sepsis. Es kann jeden treffen, durch kleinste Wunden dringen Krankheitserreger in den Körper, die Symptome Fieber, Übelkeit und Verwirrtheit werden oft nicht richtig gedeutet. Schnelle Behandlung ist ggfs. lebensrettend.

Zweieinhalb Jahre nach Detlef Karstens Tod ist es im Herbst 2019 in der Kunsthalle Wiesbaden erstmals zu einer großen Ausstellung seiner Arbeiten gekommen, zu der Tausende Besucher kamen. Und Tausende weltweit freuen sich täglich an seinen Bildern in ihrer häuslichen Umgebung. Das bestätigt doch eindrucksvoll und tröstend Hippokrates‘ Formel: „Das Leben ist kurz, die Kunst ist lang“.

Wolfgang Grätz, 230. Frankfurter Grafikbrief 23. März 2020