Anastasiya Nesterova

Wenn jemand Anastasiya Nesterova heißt, vermutet man zunächst einmal nicht, dass der Lebensmittelpunkt dieses Menschen seit vielen Jahren in Münster in Westfalen liegt. Tatsächlich wurde Nesterova 1979 in der ukrainischen Stadt Sewastopol auf der Halbinsel Krim am Schwarzen Meer geboren. Und als ob das angesichts der aktuellen geopolitischen Lage nicht dramatisch genug wäre, ist sie auch noch die Tochter einer ukrainischen Malerin und eines früheren russischen U-Boot-Kommandanten ...

Ihre Eltern leben immer noch auf der Krim, aber die kann sie nicht mehr besuchen: Dort würde man ihr sofort ihren ukrainischen Pass abnehmen und durch einen russischen ersetzen. Die deutsche Einbürgerung lässt seit Jahren auf sich warten, weil zur Aufgabe der ukrainischen Staatsbürgerschaft die Ukraine bestimmte Dokumente übermitteln müsste, was sie aber seit Jahren nicht tut. Dieser Sachverhalt wiederum übersteigt die Vorstellungskraft deutscher Behörden.

Wenn man diese Umstände bedenkt, steigt noch einmal der Respekt vor dem druckgrafischen Mammutwerk, das die Künstlerin vorzuweisen hat: Sie hatte zunächst von 1999 bis 2003 ein Kunststudium in Odessa absolviert und ging 2004 nach Münster/Westfalen, um bei Prof. Wolfgang Troschke Illustration und Druckgrafik zu studieren. Seit 2009 arbeitet sie als freischaffende Künstlerin mit dem Schwerpunkt Farbholzschnitt.

Nesterova arbeitet in thematischen Zyklen, z.B. Wasser, Landschaft, Stadtlandschaft usw. Sie beherrscht alle grafischen Techniken exzellent, hat aber im Farbholzschnitt das für ihre Themen wahrhaftigste Medium gefunden. Sieht man ihre Arbeiten, fragt man sich unwillkürlich, ob sie ihre Motive zuerst fotografisch festhält. Das tut sie nicht, sie macht: Öl- und Aquarellskizzen vor Ort! Während „normalerweise“ die Malerei als die künstlerische Königinnendisziplin der zweidimensionalen Kunst angesehen wird, dreht Nesterova den Spies um: Das gemalte Bild enthält ihr zu viel Subjektivität, durch die Notwendigkeit der Reduktion auf Holzschnitt-Flächen in 4, 6 oder 10 Farben arbeitet sie das Allgemeingültige, das Wesentliche einer Situation heraus. Das ist ihr Anspruch.

Menschen sucht man auf ihren Bildern vergebens – findet aber immer die Spuren, die sie an Land wie im Meer hinterlassen haben. Man kann ein Bild Nesterovas, das z.B. eine leere Kinderschaukel am Strand zeigt, auf viele Arten lesen: Steht es verlassen da, weil die Saison vorbei ist, die Gäste abgereist sind? Ein leicht melancholisches Herbstbild also? Oder ist es der begeisterte Blick eines heranstürmenden Kindes, weil die sonst umlagerte Schaukel frei und sofort verfügbar ist?

Was die meisten Bilder Nesterovas auszeichnet, ist der weite Horizont – ihre neuesten Arbeiten haben ein Format von 27 cm in der Höhe, aber 67 cm in der Breite, ein Panorama-Format. Da wirken auch rotweiße Begrenzungs-barken klein, der Blick geht über sie hinweg in die Weite. Dafür sind die Auflagen der Holzschnitte sehr niedrig: In der Regel gibt es nur jeweils 5 Exemplare. Dass die Preise für solche, in manchmal wochenlanger Arbeit an der verlorenen Form entstandenen Bildern nicht ganz genauso niedrig sein können, muss man akzeptieren.

Nesterova ist zu einem wichtigen Pfeiler der westdeutschen Druckgrafikszene geworden, einer Szene, die trotz der Nähe der vorzüglichen Hochschulen in Münster und Krefeld recht überschaubar ist, für die Anastasiya Nesterova eine absolute Bereicherung ist. Dass nicht nur ich das so sehe, zeigt die ellenlange Liste ihrer Preise und Atelierstipendien, z.B. 2008 im Atelier artistique international de Séguret, Provence, 2011 im Künstlerhaus am Lenbachplatz, München, 2014 im Atelier Otto Niemeyer-Holstein, Usedom, 2018 in der Fyns Grafiske Vaerksted, Odense/Dänedmark. Sie erhielt u.a. 2012 den in Bonn verliehenen Valentine-Rothe-Preis und 2013 den Ehrenpreis der dortigen Frauenmuseum-Jury, 2014 den Bersenbrücker Franz-Hecker-Preis.