Hans Ticha

Eine Einführung in die Arbeitsweise von Hans Ticha, die 2015 anlässlich dessen Ausstellung VORZEICHNUNG UND ZEICHNUNG im „Frankfurter Grafikbrief“ erschien.

Hans Ticha hat insgesamt 7 Bücher für die Büchergilde illustriert, Gedichte von Ernst Jandl und Joachim Ringelnatz, von Erich Kästner, Christian Morgenstern, Mascha Kaleko, Bertolt Brecht und Kurt Tucholsky. Er ist damit der wichtigste Illustrator der Büchergilde der letzten 30 Jahren. Aber hauptsächlich ist Ticha Maler und Zeichner...Der Begriff der „Vorzeichnung“, den wir im Ausstellungstitel gewählt haben, bezieht sich hier nicht auf eine Skizzenhaftigkeit, sondern verweist darauf, dass es ein „Nach“ gibt, dass der Vor-Zeichnung etwas folgt: das gleiche Motiv in einem anderen künstlerischen Medium.

Ich kam aus dem Staunen nicht heraus: In der ersten Ausstellung, die ich im Mai 1993 mit Arbeiten von Hans Ticha in der Frankfurter Büchergilde Buchhandlung im damaligen BfG-Hochhaus, dem späteren Domizil der Europäischen Zentralbank, ausrichtete, befand sich ein wunderbares Aquarell, das in Rot und Blau ein tanzendes Paar zeigte. Das Blatt war schnell verkauft, und so war ich mehr als verblüfft, als Ticha ein Jahr später für die Olympische Sportbibliothek München eine großformatige Farb-Lithografie von 5 Steinen mit exakt diesem Motiv schuf. Wie konnte das sein, wo ihm die „Vorlage“ doch gar nicht mehr zur Verfügung stand?

Des Rätsels Lösung fand ich bald: Der Künstler, der wenig Aufhebens macht von der Akribie, mit der er seine Arbeiten durchkomponiert, entwickelt praktisch jedes Bild aus einer Fülle von Skizzen und Entwürfen, bis er zu der für ihn richtigen Bildlösung gelangt ist. So gibt es zu beinahe jeder Grafik, jedem Ölbild eine oder mehrere, teilweise perfekt ausgearbeitete Vorzeichnungen. Nichts ist zufällig in seinen Arbeiten. Die gefundene Bildlösung steht ihm nach diesem Arbeitsprozess zur Verfügung, und er vermag es, sie in jeder künstlerischen Technik umzusetzen, als Aquarell, als Lithografie oder auch, wie in diesem Fall ebenfalls geschehen, als großformatiges Ölbild. (Ihm selbst erscheint das so selbstverständlich, dass er es für nicht weiter erwähnenswert erachtet.)

Das gehört zum Selbstverständnis des Künstlers als Konstruktivisten, einer Richtung der modernen Malerei, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zwar vor allem in der Sowjetunion durch Künstler wie Malewitsch, Rodtschenko und El Lissitzky entwickelt, aber bereits durch Lenin diskreditiert und verboten wurde. In Tichas Studium an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee (1965 – 1970) galt der Konstruktivismus als übelste Sorte des verteufelten Formalismus: „Nicht mal um Realismus ging es, naturalistisch sollten wir arbeiten…“. Nun, dieses Plansoll wurde beim Absolventen Ticha gründlich verfehlt.

Der konstruierte hinter hermetisch geschlossenen Ateliertüren aus den Versatzstücken einer erstarrten Partei- und Staatssymbolik der DDR Bilder, die durch geometrische Reduktion von dabei eingesetzten Körpergliedmaßen – beifallklatschenden Händen, gereckten Fäusten, aufgerissenen Parolen-Schreihälsen – das Serielle enthüllten, aus dem jede Emotion, alles wirklich Lebendige schon lange entwichen war. Sichtbar wurde die Leere der Hüllen eines einstmals kämpferischen Pathos (das aber wohl auch nicht gerade Tichas „Ding“ gewesen wäre…).

War der junge Mann bei Trost? Außer Gefängnis konnte ihm diese Kunst nichts einbringen. Zeigen konnte er sie nur ganz wenigen, seinen Hochschullehrer Kurt Robbel z.B. zog er ins Vertrauen, und der ließ sich auf dieses Wagnis ein. (Wagnis, weil ihn die Entdeckung solcher Arbeiten seines Studenten, die er undenunziert ließ, selbst in arge Schwierigkeiten gebracht hätte. Was hier einmal ausdrücklich gewürdigt werden muss.) Nun, was Ticha damals trieb und bis heute treibt, das ist – Kunst. Die fragt im Moment der Entstehung nicht nach Rezeption, Verkauf oder schädlichen Folgen. Die muss sein, weil der Künstler gar keine andere Wahl hat. Das ist es, was ihn vom Kunsthandwerker unterscheidet.

Seinen Lebensunterhalt in der DDR bestritt Hans Ticha dann hauptsächlich als Illustrator von Büchern und Magazinen, 73 von ihm illustrierte Bücher listet das Werkverzeichnis allein von 1959 bis 1990 auf, dazu 63 Einbandgestaltungen und 30 Illustrationsbeteiligungen, die Magazin-Illustrationen blieben wegen zu großen Umfangs ungezählt.

Wenn man ein Buch mit durchschnittlich nur 25 Illustrationen rechnet (zu Karel Capeks Der Krieg mit den Molchen schuf Ticha aber allein deren 168!), kommt man schnell auf mehr als 2000 Bildideen des Künstlers für Bücher schon bis 1990, es folgten bis heute annähernd 30 weitere Buchillustrationen, unter anderem zuletzt für die Büchergilde Gutenberg Christian Morgensterns Alle Galgen-lieder. An diesem Beispiel haben wir schon einmal den Weg des Künstlers von der ersten gescribbelten Bildidee über eine „Schmierskizze“ bis zum Ausprobieren von verschiedenen Farbvarianten eines Motivs in einer Ausstellung nachgezeichnet.

Jetzt hat uns Hans Ticha eine großartige Auswahl von Zeichnungen für unsere Ausstellung zur Verfügung gestellt, in deren Folge meist entweder Holzschnitte oder Leinwandmalerei mit dem entsprechenden Motiv entstanden sind. Der Begriff der „Vorzeichnung“, den wir im Ausstellungstitel gewählt haben, bezieht sich hier nicht auf eine Skizzenhaftigkeit, sondern verweist darauf, dass es ein „Nach“ gibt, dass der Vor-Zeichnung etwas folgt: das gleiche Motiv in einem anderen künstlerischen Medium. So geht zwar jedem Holzschnitt, jedem Ölbild usw. eine Zeichnung voraus, aber nicht jede Zeichnung findet unbedingt Anwendung als Vorlage für Malerei oder Grafik.

Zeichnung ist hier ein Sammelbegriff für die unterschiedlichsten Techniken: Bleistift, Farbstift, Kohle, Kreide, Aquarell, Gouache, Acryl, in der Regel finden sich mehrere dieser Techniken in einer Arbeit wieder, häufig benennt man der Einfachheit halber diese Vielfalt bei unikaten Arbeiten auf Papier als „Mischtechnik“.

Während ein Aquarell mittels wasserlöslicher Farben aus sehr feinen Pigmenten entsteht, die transparent, also nicht deckend wirken, ist die Acrylfarbe deckend, matt, und man kann unter Umständen Pinselspuren sehen, es kann sogar regelrechte getrocknete Farbenschlieren geben, die man mit dem Finger ertasten kann. Die Gouache (sprich: Gu-asch) ist ein wasserlösliches Farbmittel aus gröber vermahlenen Pigmenten unter Zusatz von Kreide. Die Gouache kann sowohl für deckende als auch für lasierende Maltechniken verwendet werden. Die Unter-scheidung der Techniken am Bild fällt selbst Fachleuten manchmal schwer, das muss man sich nicht abverlangen.

Tichas Zeichnungen sind ein wahres Fest von Farben und Formen, oft so plausibel, dass einen die Lösung geradezu anspringt, ein Feuerwerk an Bildideen und ungewöhnlichen Bildmetaphern, die auch durch die Reduktion auf geometrisch wirkende Formen dem Betrachter jede Freiheit lässt, mit dem Bild in einen der den eigenen Lebens-erfahrungen entsprechenden Dialog zu treten. Aufregende Qualität in dieser Breite und Vielfalt ist absolut selten.

Bei Tichas Brillanz fragte man sich zu Recht, warum der Künstler erst jetzt in den letzten 2 bis 3 Jahren „vom Markt“ entdeckt wurde, gar „Wiederentdeckt!“, wie die Zeitschrift art Anfang letzten Jahres trompetete; warum die Nationalgalerie Berlin erst jetzt mehrere Bilder erwarb; erst jetzt Galerien ihr Glück mit Tichas Arbeiten auf deutschen und internationalen Kunstmessen suchen und die Auktionspreise für seine Ölbilder die 10.000-er Grenze sprengen – vor allem im Vergleich mit immer in West-deutschland tätig gewesenen Künstlerkollegen der gleichen Generation.

Das erklärt sich durch gleich zwei blinde Augen des Kunstmarktes, dem, nebenbei bemerkt, fast immer das Verdienst gebührt, wenn ein/e Künstler/in überregional bekannt wird, da leider die meisten Museen dem Markt folgen: Das eine Auge war schlichtweg blind für alles Qualitätvolle, was nach 1989 auch aus der DDR kam. Da muss ich gar nicht wieder nur den bösen B. (aselitz) prügeln, das gehörte zum Mainstream des Siegesgefühls quer durch die ganze westdeutsche Gesellschaft in allen Bereichen, nicht nur in Bezug auf die Kunst. Und es ändert sich nur langsam.

Das andere Auge war blind für eine künstlerische Ausnahmeerscheinung wie Hans Ticha, der die berühmte Ausnahme von der Kunstmarkt-Faustregel ist, dass es nur lohne, junge Künstler „aufzubauen“, um dann möglichst lang von deren Sturm und Drang zu profitieren, dessen Ende der Kunstmarkt auf die Vollendung des 50. Lebens-jahres eines Künstlers datiert. In Tichas 50. Lebensjahr aber fiel gerade erst die Mauer und befreite erst da seinen feinen Witz von der Vorsicht, die er zur Vermeidung staatlicher Verwahrung in der DDR walten ließ, zu Recht, wie seine Stasi-Akte belegt.

Er vermied es zudem peinlich, 1990 nun den Widerstands-Heldenstatus des von der DDR verfemten Künstlers in An-spruch zu nehmen (wozu er im Gegensatz zu manch anderem, der 1990 in seiner Vita gleich mit Ausstellungs-abbrüchen prahlte, alles Recht gehabt hätte), sondern entblößte ab sofort malerisch die leeren Hüllen der Werbung und der dort propagierten Produkte, pornografische Kleinanzeigen, vermeintliche Eigenheimidylle usw. Grob kann man sagen, der Kerl ist ein unverbesserlicher Nestbeschmutzer, eigensinnig, undankbar und systemüber-greifend skeptisch.

Dabei denkt man das gar nicht, wenn man diesen feinsinnigen, ironisch blinzelnden, leisen Künstler persönlich trifft, wozu aber eben auch nicht so oft Gelegenheit ist. Zur Eröffnung dieser Ausstellung bietet sich eine dieser seltenen Möglichkeiten der persönlichen Begegnung.