Über Engel

Es ist schon erstaunlich: Laut einer Befragung von mehr als eintausend Personen in Deutschland im März 2019 glauben 40 Prozent der Menschen an die Existenz von Engeln (Spiegel 17/2019).

Auf die Idee, das nachzuschlagen bin ich gekommen, als mir auffiel, dass das Engelmotiv im Werk zahlreicher Künstler, mit denen wir arbeiten, eine gewichtige Rolle spielt. Manche schaffen ganze Serien, andere bedienen sich eher ironisch des Sujets.

Eine der frühesten Beschreibungen von Engelbildnissen findet sich in dem im 5. Jahrhundert vor Chr. verfassten 2. Buch der Chronik des Alten Testaments. Es geht um Engelskulpturen am Eingang des Salomon-Tempels im alten Jerusalem. Auch in altägyptischen Bildern werden schon – in der Regel weibliche Gottheiten – als geflügelte Wesen dargestellt. In der christlichen und islamischen Ikonografie dagegen sind Engel junge Männer...



Im Barock werden die auf hellenistische und byzantinische Vorbilder zurückgehenden Kinderengel (Putten) sehr populär. Zumindest seit Caravaggio orientieren sich Engel-Darstellungen an der Art, wie schon in der Antike der Liebesgott Eros/Amor abgebildet wurde. Im Zeitalter der Aufklärung wurden die Engel in der Bildenden Kunst seltener. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts weicht die traditionelle jünglingshafte Darstellung dem weiblichen Engel. 

Paul Klees Skizze "Angelus Novus" (siehe rechts) von 1920 markiert den Eintritt des Engels in die moderne Kunst. Er hat in Walter Benjamin (der das Bild 1921 gekauft und später mit in die Emigration genommen hat) eine Fantasie ausgelöst, die er in seine Thesen über den Begriff der Geschichte (1940) aufnahm: Dies sei der Engel, welcher auf die Vergangenheit als einzige Katastrophe zurückblicke und die Verwüstungen heilen möchte, aber vom Sturm in die Zukunft geweht werde. „Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“



Diese These erhob HAP Grieshaber zum Leitmotiv seiner 1964 erstmals erschienenen originalgrafischen Zeitschrift „Engel der Geschichte“. Bis zu Grieshabers Tod 1981 erschienen 25 Ausgaben, sie trugen Titel wie „Engel der Behinderten“, „Rettet die Wale“, „Engel der Psychiatrie“ usw. Grieshaber bezeichnete jeden dieser Engel als eine „Aktion“ und fügte hinzu: „Jeder Engel hatte, bevor er erschienen ist, etwas Wichtiges zu tun: gegen ein Unrecht anzugehen, kurz, wie es sich für Engel geziemt, den Tod zu besiegen ...“ 

Das ist eine von zwei möglichen Auffassungen von den Aufgaben der Engel: Vom altgriechischen ángelos „Bote“, „Abgesandter“ stammend, verweist die Etymologie eher auf die biblische Rolle der Engel als Mittler zwischen Gott und den Menschen, die Flügel braucht‘s für den Weg vom Himmel zur Erde. Aber auch der behütende Engel kommt in der Bibel (Psalm 91,11-13) vor:
Denn er hat seinen Engeln befohlen,
dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen,
 dass sie dich auf den Händen tragen
und du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest.
 Über Löwen und Ottern wirst du gehen
 und junge Löwen und Drachen niedertreten.


Meine eigene frühkindliche Engelbild-Erinnerung ist geprägt von diesem schützenden Engel: Auf einem wohl durch die katholische Großmutter in meinen Besitz gelangten papiernen Bildchen flankierten zwei mächtige Engel einen relativ kleinen Menschen. Das wirkte sehr vertrauenerweckend. Dann wurde der Engel durch einen Zufall zu einem zentralen Kunstmotiv meiner Arbeit: Als wir im September 1998 durch ein Management-Buy-out die von den gewerkschaftlichen Eigentümern schon abgewickelte Büchergilde selbst übernahmen, war diese neue Selbständigkeit zwar einerseits hart erkämpft, andererseits aber durchaus mit sehr bangen Gefühlen verbunden.

Ich empfand in dieser Übergangszeit große Dankbarkeit gegenüber den treuen Kunden der Büchergilde, namentlich denen in meinem Verantwortungsbereich von Grafik und Buchkunst, und überlegte, wie ich diese zum Aus-druck bringen könnte. Ich war damals ehrenamtlicher Vorsitzender des Wiesbadener Kunstvereins, und da fiel mir die Restauflage einer Jahresgabe des Kunstvereins in die Hände, eine Orig.-Lithografie der Wiesbadener Künstlerin Lieselotte Schwarz, die auch für die Büchergilde mehrere Bücher illustriert hatte. Der Titel der Grafik war: „Der Engel hält mein Haus“.

Ich konnte diese Teilauflage übernehmen und an meine siebzig „besten“ Kunden verschenken. Seitdem habe ich jedes Jahr eine Künstlerin oder einen Künstler beauftragt, einen originalgrafischen Dankbarkeits-Engel für mich zu schaffen. Die erste Grafik von Lieselotte Schwarz bildete die Blaupause für alle folgenden: Das Format ist 37 x 27,5 cm, ansonsten sind die Künstler in der Gestaltung völlig frei. Die Grafiken sind signiert, aber nicht nummeriert, denn es soll kein Kunstmarktobjekt entstehen. Der Empfänger/innenkreis wird jedes Jahr neu ermittelt.



An sich sollen diese Engel nicht käuflich sein, aber im Lauf der Jahre gab es doch von einigen Auflagen überzählige Exemplare, Rückläufer usw., die Teil dieser Ausstellung sein sollen. Einen angemessenen Teil der Erlöse aus dem Verkauf dieser Engel spenden wir der Organisation Ärzte ohne Grenzen für die Versorgung akut mangelernährter Kinder in Madagaskar, wo – im medialen Schatten des Ukrainekriegs – eine furchtbare Hungerkatastrophe wütet.

Die Engel-Auffassungen in dieser Serie sind so vielfältig wie die der anderen Exponate dieser Ausstellung. Von der humoristischen Darstellung des kleinen Schweins in einer Radierung von Susanne Smajic, das gern mal Engel sein möchte, und den schwebenden Keramik-Engeln von Karl-Heinz-Richter mit echten kleinen Federn bis zu großformatigen Farbholzschnitten von Peter Zaumseil und den vielschichtigen Zeichnungen der Leipziger Künstler-Legen-de Günther Huniat reicht das Spektrum. Der Künstler hat übrigens selbst im vergangen Jahr zusammen mit zwei Geisteswissenschaftlern in Leipzig eine „Engel“-Ausstellung kuratiert.



„Meine Engel-Figuren haben nur angedeutete Flügel, so-dass sie wie Menschen wirken, die, „beflügelt“ von humanistischen Idealen oder Nächstenliebe, anderen bei-stehen, in Kummer und Not“, schreibt Dagmar Zemke, deren überlebensgroße Engel-Druckstöcke wir leider aus Platzmangel nicht zeigen können – es bleiben zahlreiche handlichere Formate. Simone Jänke hat einen Zyklus von vier Engeln geschaffen, in dem jeder Engel für eine weibliche Lebensphase steht. Peter Zaumseil hat die Zusammenarbeit mit dem Lyriker Ingo Cesaro gesucht für eine schöne Serie von Einblattdrucken, Engel-Poetik in Wort und Bild. Auch andere Künstler haben die Form der Engel-Text-Illustration gewählt, vor allem Andrea Lange und Matthias Gubig.

Last not least kann ich nach meiner Beschäftigung mit dem Thema auch mit einem beliebten DDR-Mythos aufräumen, nach dem die atheistische SED-Regierung das Wort „Engel“ aus dem Sprachgebrauch tilgen und durch „Jahresend-Flügelpuppe“ ersetzen wollte: Nicht diese, sondern der Satiriker Ernst Röhl (1937 – 2015) hat den Begriff im „Eulenspiegel“ geprägt, den DDR-Kabarettisten fröhlich weiterverbreiteten, zu wahrscheinlich erschien dessen Authentizität. Röhl musste schon als Student 1961 bis 1962 wegen „staatsfeindlichem Kabarettspiel“ ins Gefängnis – ein vergessener Held der Literatur!

Wolfgang Grätz, 245. Frankfurter Grafikbrief Oktober 2022