Der Linolschnitt – Seit Picasso ist es Kunst
Es gibt grafische Techniken, vor denen steht man voller Ehrfurcht: die Radierung z.B., die, wenn man es nie live gesehen hat, auf unvorstellbare Weise Farbe aus Plattenvertiefungen saugt, oder die Lithografie, noch unbegreiflicher, weil in mit bloßem Auge nicht sichtbaren Poren eines spiegelglatt geschliffenen Kalksteins, der auch noch „Schiefer“ genannt wird, Partikel eines Fettkreidestifts hängen bleiben, die nach alchemistischer Behandlung des Steins auf diesen aufgewalzte Farbe unter Druck an Papier abgeben. Der Linolschnitt aber, den haben doch (hoffentlich) die meisten von uns schon....
in der Grundschule selbst ausgeübt, kinderleicht, keine große Kunst also? Mal sehen – im wahrsten Sinne des Wortes:
1903 hat der Expressionist Erich Heckel wohl als erster namhafter Künstler eine Linolplatte als Druckträger für den Hochdruck bearbeitet – Hochdruck heißt die Technik wie auch der Holzschnitt deswegen, weil Vertiefungen in die Platte geschnitten oder geritzt werden, aber nur die unbearbeiteten, dadurch noch hochstehenden Teile eines Druckstocks etwas zu Papier bringen.
Erfunden hat das Linoleum der englische Ingenieur Frederick Walton, der nach einer Rezeptur für schnelltrocknende Farben suchte. Er entdeckte, dass Farben, vermischt mit oxidiertem Leinöl, eine relativ feste, gummiartige Masse ergeben. Für dieses „Linoxin“ erhielt er 1860 ein Patent. Sein Verfahren, diese Masse auf Gewebebahnen aufzutragen, patentierte er 1864, und ab 1867 trat das Linoleum (aus Linum für Lein und oleum für Öl) seinen Siegeszug rund um die Welt an als „warmer, weicher und haltbarer Fußbodenbelag“. Die heutigen Linolschnittplatten bestehen aus Korkmehl, Harz und Linoxin.
Auch Ernst Ludwig Kirchner nutzte 1904/05 Linoleumplatten als Druckstöcke, August Mackes berühmte Grafik „Begrüßung“ von 1912 ist ein Farblinolschnitt, Christian Rohlfs und Otto Pankok begannen ab ca. 1910 in Linol zu schneiden. Aber der weiche, leicht zu bearbeitende Stoff konnte der expressionistischen Idealisierung des „heroischen Materials“ Holz mit seiner Aura des Rohen, Archaischen nicht standhalten, und so versank der Linolschnitt erst einmal wieder im Dornröschenschlaf, aus dem erst Picasso ihn Mitte der fünfziger Jahre weckte:
Picasso liebte künstlerische Experimente. Vor allem auf dem Gebiet der Grafik probierte er immer wieder neue Techniken aus. 1954 begann mit seiner Entdeckung des Linolschnitts sein letztes großes grafisches Abenteuer. Mit über 70 Jahren wurde er noch einmal „Lehrling“ in einer von ihm unerprobten Technik. Indem er kräftige, leuchtende Farben verwendete, gelang ihm, was keinem anderen zuvor gelang: Er machte den Linolschnitt zu einer großen Kunstform. „Seine großformatigen Grafiken wirken durch ihre Leuchtkraft wie Gemälde. Damit hat Picasso dem Linolschnitt den Adelsbrief ausgestellt.“ (Prof. Markus Müller, Direktor des Picasso-Museums Münster) Zwischen 1954 und 1968 schuf Picasso mehr als 150 Linolschnitte.
Parallel zu Picassos Entdeckung „konvertierte“ auch Karl Rössing, nicht zuletzt bekannt geworden durch das 1932 bei der Büchergilde erschienene nazikritische Buch „Mein Vorurteil gegen diese Zeit“ vom Holzschnitt und -stich zum Linolschnitt. Rössing, seit 1947 Professor an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart, schnitt um 1950 Platten, auf denen nur einzelne Figuren standen, und druckte diese dann wie Stempel kombiniert mit anderen Elementen neben- oder übereinander, konnte sie neu färben oder verändern, mit Zusatzplatten oder mit einem Holzstich früherer Jahre ergänzen. Jeder der einzeln von Hand gedruckten Linolschnitte war daher ein Unikat. Bis 1983 entstanden knapp 500 Linolschnitte!
1961 gründeten die beiden Kunststudenten Wolfgang Jörg (1934 – 2009) und Erich Schönig (1935 – 1989) in Berlin die „künstlerische Arbeitsgemeinschaft“ Berliner Handpresse. Das erste Buch, „An die Herrschaften im 5. Stock…“ war mit zehn Original-Farbholzschnitten versehen, für jede der vier bis fünf Farben wurde eine eigene Druckplatte verwendet. Die fünfzig Holzplatten für die Druckstöcke waren im Verhältnis zum Buchpreis zu teuer, die Künstler stiegen auf den Linolschnitt um (und kauften dazu Reste im normalen Fußbodenhandel) und blieben zeitlebens dabei, ebenso wie die 1965 zur Handpresse hinzugekommene Ingrid Jörg. Die ca. 200 Drucke der Berliner Handpresse enthalten zusammen mehr als 1200 (!) Orig.-Farblinolschnitte, viele in 7 oder 8 Farben gedruckt – da wurden mehr als 10.000 Linolplatten bearbeitet…
Auf ein vergleichbares Buchkunstwerk kommt der in Klosterneuburg bei Wien lebende Georg Koenigstein, der allein 49 originalgrafische Bücher, die meisten mit mindestens fünf eingebundenen Farblinolschnitten illustriert, geschaffen hat. Er nennt als Gründe, im Linol- statt im Holzschnitt zu arbeiten, u.a., dass die Bilddruckplatten in der Druckpresse immer auf gleicher Höhe wie der Schrift-satz stehen müssen, das ist mit den ebenmäßigen Linolplatten leichter zu bewerkstelligen.
Klaus Süß arbeitete 20 Jahre lang in der von Picasso erfundenen Technik des Farblinolschnitts in der verlorenen Form, ehe er nach Studienaufhalten im südlichen Afrika Mitte der neunziger Jahre auf den Farbholzschnitt (auch in der Verlorenen Form) umsattelte, im Zuge einer durch die Begegnung mit afrikanischer Kunst ausgelösten Straffung seiner Figuration. Tatsächlich sind die früheren Arbeiten von einem weicheren Linienschwung. Große Linolschneider waren auch Wolfgang Mattheuer, von dem wir wenigstens ein nicht signiertes Blatt in der Ausstellung zeigen können, und Johannes Grützke, der den Linolschnitt oft als raffinierten Fond unter seine Lithografien druckte.
Der heutige Linolschnitt zeichnet sich ebenso wie der Farbholzschnitt durch eine rasante Entwicklung hin zu neuen Formen und innovativen Verfahren aus. Der bekannteste zeitgenössische Linolschneider ist wohl Philipp Hennevogl, dessen Name inzwischen fast synonym für das Genre steht. Der 1968 in Würzburg geborene Künstler studierte 1988 – 1994 an der Universität GH-Kassel und ist weltweit in Museen und Sammlungen vertreten. Seine teilweise wandgroßen Linolschnitte zeichnen sich durch ungeheuren Detailreichtum aus. Dabei arbeitet er alle schwarzen Linien aus der Platte, d.h. der größte Teil der Plattenoberfläche wird herausgeschnitten, die filigranen Linien blieben stehen. Bei ihm ist klar: Diese geschmeidigen Formen wären, wenn überhaupt, in der Holzplatte nur mit größter Schwierigkeit zu erzeugen, ganz zu schweigen von der Gefahr des irreparablen Wegbrechens einzelner Stege, die das flexible Linoleum kaum kennt.
Mit Philipp Hennevogl trauen sich auch Museen Grafik-Einzelausstellungen zu, eine Seltenheit. Zuletzt zeigte 2019 das Museum Pfalzgalerie Kaiserslautern eine Einzel-ausstellung des Künstlers, dem dazu erschienenen, sehr informativen Katalog verdanke ich etliche der oben angeführten Weisheiten, die selbst im allwissenden Internet nicht zu finden waren (Vorzugsausgabe siehe unten).
Innovation brachte auch der schon als junger Student ungemein erfolgreiche Sebastian Speckmann (*1982) in den Linolschnitt, den er eher als Linolstich auffasst: Aus unzähligen weißen Punkten ertastet das Auge des Betrachters, das gewohnt ist, sich an Linien zu orientieren, ein Bild, das man auch als „Linol-Pointilismus“ bezeichnen könnte. Ähnlich arbeitet heute die unter dem Künstlernamen ORLANDO bekannte Karla Neumeyer. Die Linolschnittkünstler befruchten sich gegenseitig, so haben Hennevogl, Sebastian Speckmann und der ebenbürtige Claas Gutsche, Ateliernachbar von Hennevogl in Berlin-Hohenschönhausen, zusammen eine Mappe mit je 2 Orig.-Linolschnitten herausgegeben – hat man die, hat man ein gut Teil der Creme de la Creme des zeitgenössischen deutschen Linolschnitts (s.u.).
Dass es hier nicht ohne die große Erneuererin des Hochdrucks, Petra Schuppenhauer aus Leipzig, abgehen kann, versteht sich von selbst: Als sie das Stipendium eines vierwöchigen Arbeitsaufenthaltes in der Druckwerkstatt des Kunsthauses Hohenossig gewann, experimentierte sie mit einem Verfahren, das sie Linolätzung nennt: Um malerische Eindrücke im Linolschnitt zu erzielen, trug sie mit dem Pinsel Asphaltlack auf die Linolplatte auf, deren Oberfläche sie dann mit Eisenchlorid, wie es an sich zur Kupferätzung der Radierung verwendet wird, bearbeitete. Alle Stellen, die nicht durch den Asphaltlack geschützt sind, zerbröseln unter Einwirkung der Säure und können ausgebürstet werden, zum Druck bleiben die Stellen hochstehen, die anfangs mit dem Asphaltlack gemalt wurden (eine solche Druckplatte ist in der Ausstellung zu sehen). Hochdruckmalerei. Wenn das Picasso gewusst hätte!
Unsere Ausstellung zeigt Arbeiten von Manfred Schmidt, Dagmar Zemke, Jutta Habedanck, Andrea Peter, Katrin Stangl, Franziska Neubert, Karl Rössing, Sebastian Speckmann, Philipp Hennevogl, Claas Gutsche, Petra Schuppenhauer, Ludwig Gebhard, Georg Koenigstein, Eckhardt Schädrich, Jana Davids, Judith Cleve, Svato Zapletal, Frank Wahle, Orlando, Henriette von Bodecker, Ingrid Jörg, Regina Ouhrabka, Thomas Duttenhoefer, Wienke Treblin, Michael Zander, Wolfgang Mattheuer Julia Weck, Katja Zwirnmann und Klaus Süß.