Helga Wirth

Qualität setzt sich durch, meint man, ja, man hofft es auch irgendwie in eigenem Interesse. In der Kunst stimmt das leider so nicht – denn Kunst braucht nicht nur Öffentlichkeit, um entdeckt zu werden, es braucht vor allem auch die richtige Öffentlichkeit. Die beste für einen Künstler ist die einer renommierten Kunstmesse und dort wiederum möglichst in der Koje einer namhaften Galerie. Dorthin schafft es kaum 1 Prozent der Bildenden Künstler. 

Was für die restlichen 99 Prozent der Künstler ein recht mühseliges und unsicheres Erwerbsleben bedeutet, ist für den/die selbstbewusst und eigenständig urteilende/n Kunstliebhaber/in ein Vorteil – denn es gibt neben dieser Künstleroberschicht (deren Produkte durchaus nicht automatisch ihr Preisniveau rechtfertigen und keine Garantie bieten, dass sie dieses behalten) manchen außergewöhnlichen Künstler, den man selbst entdecken kann und dessen Preise die gewaltigen Marketingkosten der Großgalerien nicht enthalten.

Eine solche Künstlerin, die eigentlich alle Kriterien des ersten Marktes erfüllt und die dennoch zeitlebens ein Geheimtipp geblieben ist, ist Helga Wirth. Die Künstlerin arbeitete konzeptionell – in ihrer Malerei wie in der Grafik spürt sie dem Einfluss der Natur auf unsere Sehgewohnheiten nach und zeigt auf immer neue, oft verblüffende Art, wie fließend der Übergang vom Gegenständlichen zur Abstraktion ist.

Unser Gefühl für formale Harmonie ist geprägt von der Ebenmäßigkeit der Natur: Schon kleine Kinder malen Bäume als grüne rundliche Formen auf braunem Stamm, und lässt man einen einzelnen Baum unter idealen Bedingungen wachsen, so entwickelt er eine ausgewogene Gleichseitigkeit. Die Horizontlinie eines Waldrandes mag je nach Baumarten Höhen und Tiefen aufweisen, aber die Linie geht in gemäßigten Übergängen auf und ab und nicht zackig wie die Indexkurve des Ölpreises, weil in jede mögliche Lücke ein sich nach Licht sehnender Ast strebt.

Ähnlich verhält es sich mit den Farben: Durch die Lichtbrechung sehen wir beispielsweise ein tiefes Blau in weiter Ferne als helles Blau, umgekehrt muss ein roter Gegenstand uns nah sein, sonst wär er nicht kräftig rot zu sehen, sondern rötlich. Das bedeutet z.B., wir assoziieren bei einem hellen Blau in einem abstrakten Bild automatisch Weite, Horizont, eventuell Wasser, denn das menschliche Gehirn versucht Unbekanntes immer durch Anknüpfen an schon vorhandene Erfahrung begreifbar und erklärbar zu machen. So ordnen wir Farben räumlichen Verhältnissen zu.

Helga Wirth hat in ihren Bildern, in Formen und Farben, die Grenze zwischen Abstraktion und Naturausschnitt ausgelotet, und es sind ihr grandiose Bildlösungen gelungen, bei denen das Auge immer wieder aufs Neue heraus-gefordert ist, scheinbar Fragmentarisches zu ergänzen und so die abgebildete Natur zu erkennen. Eine Natur, deren Schönheit die Künstlerin feiert und deren Geheimnisse sie ihr belässt.

Warum bleibt eine solche Künstlerin sozusagen unentdeckt? Da war zunächst ihre ausgeprägte Bescheidenheit – so etwas ist für die Karriere mehr als hinderlich. Stellen Sie sich einen Baselitz vor, der zur eigenen Arbeit sagt: Na, so besonders ist das doch auch nicht. Unvorstellbar? Ja, denn wir würden ihn dann gar nicht kennen. Helga Wirth war eine solch bescheidene Künstlerin, und das spiegeln auch die Formate ihrer Öl-Bilder: Wer 2 x 3 Meter Leinwand aufspannt, der signalisiert: Ich gehöre ins Museum, ich gehöre ins Foyer großer Firmen, für meine Kunst ist jedes private Wohnzimmer zu klein. 

Helga Wirth dagegen hat Kunst für Menschen mit Wohnzimmern geschaffen. Die Bilder unserer Ausstellung messen meist 80 x 100 cm. Die 1937 in Berlin geborene Tochter eines Rechtsanwalts musste nach dem plötzlichen Tod ihres Vaters ihr Kunststudium an der Berliner Hochschule der Künste nach wenigen Semestern abbrechen und Geld verdienen – das machte sie binnen kurzem zur meistpublizierten Künstlerin Berlins, denn sie zeichnete von Hand die Wetterkarten, die die Berliner Zeitungen täglich druckten. Daneben bildete sie sich in den grafischen Techniken aus – bei H. Otto in Salzburg erlernte sie die Lithografie, bei Anselm Dreher Radierung. Diese wurde ihr ganzes Künstlerleben lang ihre bevorzugte Technik, die sie meisterhaft beherrschte.

Mit ihrem Künstlergatten Willibrord Haas richtete sie 1972 in Berlin-Charlottenburg eine eigene Radierwerkstatt ein – und schon dieser Aufwand zeigt die Wichtigkeit der Druckgrafik für ihren Ausdruckswillen. Denn Künstler, die Radierung nicht selbst drucken können, mithin den aufwändigen Druck bezahlen müssen, können kein solch um-fangreiches Werk vorlegen, wie das Helga Wirth gelungen ist.


Helga Wirth ist am 6. Juni 2014 nach einer kurzen, schlimmen Erkrankung gestorben. Die agile, sportliche und lebenskluge Künstlerin wurde, so merkwürdig das bei einem Menschen von 77 Jahren klingen mag, mitten aus dem Leben gerissen. Der Büchergilde artclub verdankt ihr viele malerische und grafische Arbeiten von hoher Qualität, in etlichen Städten wurden ihre Arbeiten in den Büchergilde-Galerien gezeigt. Auf einer Umsatzrangliste von Künstlern bei der Büchergilde würde sie sehr weit vorne platziert sein – allein ihre Malerei war bei fast jeder Präsentation im Büchergilde Magazin weitgehend ausverkauft, das gelingt sonst nur mit Arbeiten von Johannes Grützke und Hans Ticha. Das Gespür des „Marktes“ ist eben manchmal besser als das des Feuilletons.