100 Jahre Büchergilde und die Kunst: Der Büchergilde artclub

„Empörung und Gestaltung“ – so betitelte der legendäre Büchergilde-Schriftleiter Erich Knauf (*1895, 1944 von den Nazis wegen „zersetzender Reden“ zum Tode verurteilt und in Berlin-Plötzensee hingerichtet) sein 1928 erschienenes Buch, mit dem er die damals noch weitgehend proletarische Mitgliedschaft der Büchergilde mit engagierter und kritischer Gegenwartskunst konfrontieren wollte. „Künstlerprofile von Daumier bis Kollwitz“ war der Untertitel, vorgestellt wurden in Wort und Bild u.a. Frans Masereel, Max Liebermann, Heinrich Zille, Ernst Barlach, Otto Dix und George Grosz. 

Die zeitgenössische Kunst war von Anfang an selbstverständlicher Teil einer Buchgemeinschaft, die sich zwar hauptsächlich der Verbreitung guter wie klassenbewusstseinsfördernder Literatur verschrieben hatte, aber auch die anregende Kraft des Bildes sehr zu schätzen wusste. Das schlug sich zunächst vor allem in teilweise sogar originalgrafischer Illustration nieder. Künstler wie Erich Ohser (in der Nazizeit Zwangspseudonym e.o.plauen) wurden von der Büchergilde entdeckt, Arbeiten bekannter Künstler wie Max Pechstein adaptiert.

Aus dieser Zusammenarbeit mit bildenden Künstlern sollte aber erst 1971 eine freie Grafik-Edition entstehen, die an das von Knauf vorgegebene Niveau anknüpfte. Es erschienen Grafiken z.B. von Karl Hubbuch, Max Ackermann, Karl Rössing, HAP Grieshaber, Alfred Hrdlicka, Horst Antes, Gerhard Altenbourg und Werner Tübke. Damals junge Künstler wie Gertrude Degenhardt, Michael Matthias Prechtl und Klaus Böttger verdankten der Büchergilde ihre bundesweite Bekanntheit. Durch die Kooperation mit dem DDR-Reclam-Verlag Leipzig und Übernahme von dessen grafischen Mappen, die wegen der Konkurrenz des Stuttgarter Reclam-Verlages in der BRD nicht frei angeboten werden durften, fand man in der Büchergilde – members only – auch die Creme der DDR-Kunst wie Wolfgang Mattheuer und Hermann Glöckner.

Verantwortet wurden diese Editionen von den jeweiligen Literatur-Lektoren, und das entpuppte sich langfristig als Achillesferse: Abseits der aufgezählten großen Künstlernamen fehlte es an Expertise und insgesamt an Zeit, sich mit einem solch komplexen und anspruchsvollen Genre wie der zeitgenössischen Druckgrafik vertraut zu machen. So füllten sich die Grafikschränke im Lager, das immer schon nur spärlich vorhandene Kapital, das zur Grafik-Produktion eingesetzt worden war, floss nicht zurück.

Die Folge war, dass ein eher kunstferner Büchergilde-Geschäftsführer (vom damaligen Aufsichtsratsvorsitzenden, dem Ex-Bundesfinanzminister Hans Matthöfer, per teurem Headhunter vom TÜV-Rheinland-Verlag (!) abgeworben) bei Gelegenheit der Pensionierung eines Cheflektors 1995 beschloss, die Grafik-Edition ganz einzustellen. Dabei hatte ich zu dieser Zeit schon lange darauf hingearbeitet, nach dem Ausscheiden des Lektors die Kunst vom Literaturlektorat zu entkoppeln und deren Edition neben der Tätigkeit in meiner Buchhandlung selbst zu übernehmen, unter dem neuen Namen Büchergilde artclub.

Wider Erwarten gelang dies doch noch, nachdem ich dem Geschäftsführer anbot, im Zeitraum eines Jahres – unvergüteter – Arbeit nachzuweisen, dass auch die Büchergilde mit Kunst wirtschaftliche Erfolge erzielen könnte. Das war nicht schwer, in den umfangreichen Lagerbeständen fand sich durchaus hohe Qualität, man musste sie nur angemessen bewirtschaften. Für neue Editionen verfügte ich aufgrund der Ausstellungen in meinem Laden wie meiner ehrenamtlichen Tätigkeit für den Nassauischen Kunstverein Wiesbaden über zahlreiche Künstlerkontakte; dort hatte ich u.a. direkt nach dem Mauerfall schon Ausstellungen mit Hans Ticha und Klaus Süß realisiert. 

Vor allem aber hatte ich den Ehrgeiz, das Kunstangebot der Büchergilde jetzt nach transparenten Kriterien zusammen-zustellen: Es sollten Arbeiten aller zeitgenössischen Künstler/innen im deutschsprachigen Raum, die einen Werkschwerpunkt in figurativer Druckgrafik hatten, präsentiert, junge Kunst besonders gefördert werden. Dazu gab es in der Kategorie „Über den Tellerrand hinaus“ Einblicke in die Druckgrafikszene anderer Kulturen, z.B. der Aborigines, preiswerte Editionen von Original-Fotografie von Barbara Klemm bis Werner Mahler, Skulpturen und Multiples. Analog zum Preisvorteil bei Büchern, einem der Grundpfeiler der Buchgemeinschaft, sollten Mitgliedern der Büchergilde Vor-zugspreise eingeräumt werden, zum Schutz der Marktpreise der Künstler/innen diese aber auch immer in einem Nicht-mitgliederpreis kenntlich gemacht werden.

Für eine breite Präsentation von Druckgrafik verfügte die Büchergilde mit ihren ca. 90 Partnerbuchhandlungen über eine einzigartige Infrastruktur. Leider nutzte nur etwa ein Dutzend dieser Buchhandlungen die Möglichkeit, auch Menschen, denen die Auseinandersetzung mit Kunst vielleicht nicht in die Wiege gelegt wurde, mit druckgrafischen Werken ihrer Zeitgenoss/inn/en zu konfrontieren. Die Angst der Mitarbeiter/innen vor einem fremden Genre, in dem das kundige Mitglied vielleicht besser Bescheid weiß als der Verkäufer, die Sorge, durch unsachgemäßen Umgang mit dem empfindlichen Bütten wirtschaftlichen Schaden anzurichten oder schlichte Platzprobleme mögen ursächlich gewesen sein. Nachdem ich einmal einen selbständigen Buchhändler in einer sehr kunstaffinen rheinischen Großstadt eine Stunde lang bekniet hatte, dort wenigstens in jedem Quartal eine Büchergilde-Grafik in seinem Geschäft zu präsentieren, war sein lakonischer Schlusssatz: „Na gut, dann probieren wir das halt mal mit dem art-Kram“… 

Von Seiten der Künstler/innen gab es dagegen große Aufgeschlossenheit für das Projekt artclub, selbst der Idee gegenüber, Büchergilde-Mitgliedern kleinere Preis abzuverlangen, was die Künstler ja auch mit einer Reduktion des eigenen Honorars unterstützen mussten; aber sie hofften genau wie ich, dadurch eine Erweiterung des Marktes für Druckgrafik zu initiieren. Das galt durchaus auch für erfolgreiche Maler/innen wie Johannes Grützke, Stephan Balkenhol, Angela Hampel, Helge Leiberg, K.H. Hödicke, Rosa Loy und Hans Ticha, die ja ganz selbstverständlich auch ein druckgrafisches Werk pfleg(t)en, das im Büchergilde artclub zu sehr zivilen Preien angeboten wurde. Eine einzige Edition in dieser Gewichtsklasse scheiterte am Geld: A.R. Pencks Galerist Michael Schultz erwartete ein Honorar von 62 000 Euro für eine Auflage, die unbesehen angekauft werden sollte, und wollte einen Mindest-Verkaufspreis von 2500 Euro pro Grafik vorschreiben. Das passte nicht zu unserer Philosophie (und der wirtschaftlichen Vernunft).

In den Anfängen des artclub war die Druckgrafik noch eine weitgehend männlich geprägte Domäne. Ich ließ mich deshalb von der Vorsitzenden des Vereins der Berliner Künstlerinnen (der entgegen des eigenen, vor 157 Jahren gewählten Namens von Künstlerinnen aus ganz Deutschland gebildet wird), der Galeristin Karoline Müller, beraten, um annähernd Parität der Editionen herzustellen. Das war bald nicht mehr nötig, denn vor allem die Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB) entwickelte sich zu einer echten Kaderinnen-Schmiede der Druckkunst, was sehr schnell im Programm des artclub sichtbar wurde, mit frühen Arbeiten von Künstlerinnen wie Katrin Stangl, Franziska Neubert, Petra Schuppenhauer, Franziska Schaum und und und. Eine grafische Mappe des artclub trug 2005 gar den Titel „Das Fräuleinwunder der Druckgrafik“. 

Der artclub regte künstlerische Projekte direkt an: sei es nun, Hans Ticha zu bitten, eine Adaption von Tischbeins Goethe in Campana zu schaffen, mit Bodo Klös die Idee zu einer Reihe von Popmusiker/innen-Porträts von John Lennon bis Janis Joplin zu entwickeln, die ein Pendant in einer Reihe Porträts klassischer Komponisten durch verschiedene Künstler, z.B. Bernhard Heisigs, fand. Oder für ein Thema – die Legende Willy Brandt – sieben bedeutende Künstler zu gewinnen, von Thomas Bayrle über Barbara Klemm bis zum Bildhauer Thomas Duttenhoefer. 

 

Neben dem zusammen mit der Berliner Tabor Presse herausgegebenen Orig.-Grafik-Kalender etablierte sich auch der „Pin-up-Kalender“ von vier ganz jungen Leipziger Künstle-rinnen, den diese als studentisches Projekt an der HGB begonnen hatten, der dann von der Büchergilde 10 Jahre lang mit ihnen zusammen weitergeführt wurde. Drei von ihnen, Katja Spitzer, Halina Kirschner und Nadine Prange, illustrierten später auch für die Büchergilde. 

Nicht jede Idee reüssierte: Der Versuch, die künstlerische Aktdarstellung aus der Verdammnis vermeintlicher Frauen-feindlichkeit zu befreien, indem entsprechende Grafiken gleich als Sudelblätter rubriziert wurden, scheiterte an mangelnder Nachfrage. Manchmal gelang es, einen bekannten und „teuren“ Künstler wie den Fotografen Hans-Christian Schink für eine preisgünstige artclub-Edition zu gewinnen, weil er selbst Mitglied der Büchergilde war.

Insgesamt erschienen zwischen 1996 und 2021 mehr als 2000 vorwiegend orig.-grafische Editionen zeitgenössischer Kunst im Büchergilde artclub, ein gewichtiger Beitrag zur aktuellen Geschichte der Druckgrafik in Deutschland, zum Lebensunterhalt von Künstlerinnen und Künstlern und zur Bewahrung einer großen künstlerischen und handwerklichen Tradition, die bedroht ist durch die perfekten, aber sterilen Ausdrucke digital erstellter Bilder, die von offenbar kapitalstarken Firmen als „signierte und weltweit streng (Die Peitsche?) limitierte Originale“ ausgegeben und in den Markt gedrückt werden.

Das Kapitel Büchergilde artclub mit der Edition eigener Grafik-, Fotografie- und Kleinplastik-Auflagen endete, als sich verschiedene Rahmenbedingungen geändert hatten: das Kaufverhalten der Kunstinteressierten, das nach mehr Vielfalt fragte, statt wie ehedem hohe Auflagen abzunehmen, was in einem gedruckten Magazin nicht abbildbar und wirtschaftlich schwer zu stemmen ist, weil mehr Vielfalt erheblich größeren Aufwands bedarf; die Erhöhung der Mehrwertsteuer für Editionen und Galerien auf 19 %, die das wirtschaftliche Gleichgewicht zwischen Künstlern und den Vermittlern ihrer Arbeiten zerstörte und nicht über Preiserhöhungen abzufangen war. Schließlich gelang es nicht, einen größeren Teil der Büchergilde-Partnerbuch-läden als aktive Propagandisten der Druckgrafik zu gewinnen, ein Webfehler unseres eigenen Systems. 

Da ich als Verleger des artclub einerseits, und Herausgeber des Frankfurter Grafikbriefs schon lange nur schwer erklärbare Parallelstrukturen bediente, lag es nahe, Büchergilde artclub und Grafikbrief zu fusionieren, um auf der Basis einer Internetplattform die Präsentation zeitgenössischer Druckgrafik nach den oben genannten Kriterien fortzuführen und uns des großen Vertrauens, das Künstlerinnen und Künstler wie Kunstliebhaber/innen in die Seriosität der Büchergilde in einem schwer überschaubaren Segment des Kunstmarktes setzen, würdig zu erweisen.