Zu wissen, es ist Bütten!
Der große Büttenbogen, den mir Gangolf Ulbricht zeigt, in den Katakomben des Berliner Bethanien, wo sich seine Papierwunderwelt befindet, glitzert, ich errate aber nicht, aus was er besteht: ausrangierte Dollarscheine, im Holländer feinst gehäckselt und im Wasser zu Brühe verrührt, mit dem Sieb zu neuem Leben aus der Bütte geschöpft – ein einzigartiges Papier!
Daneben liegt ein tiefblauer, dicker Bütten-Pappebogen: geschöpft aus den Fasern alter Blue Jeans. Das Material der alten Hosen, wegen der intensiven Farbe vom Papiermacher geschätzt, wird künftig weiterleben als hochwertiger Buchumschlag. In Eimern stehen, wie Gemüse von Hand kleingeschnipselt, zweihundert Jahre alte Leinentapeten, die darauf warten, entfärbt und dann im Holländer zerfasert zu werden...
Der Holländer, das ist eine mit Schneidmessern besetzte Walze, die sich in einer wasserbefüllten Bütte dreht und Lumpen und altes Gewebe in der Brühe in immer kleinere Fasern zerlegt – je feiner die Fasern, desto fester das später daraus geschöpfte Bütten. Ein tagelang andauernder Prozess. Bei Gangolf Ulbrich surren zwei elektrisch betriebene Holländer in einem eigenen Raum vor sich hin, früher wurden sie mit Wasserkraft betrieben – daher der Begriff „Papiermühle“.
Aus dieser Brühe wird mit dem Schöpfsieb, einem rechteckigen Holzrahmen, dessen Boden ein feines Geflecht aus Stahl- oder Nylonfäden bildet, eine bestimmte Menge Brei aus der Bütte geschöpft und gleichmäßig im Sieb verteilt. Das Wasser läuft durch, die Fasern lagern sich im Sieb ab. An den Rändern verjüngt und verdünnt sich der Brei, so entsteht der echte Büttenrand, die unregelmäßige, dünner werdende amorphe Außenform des Bogens. Dieser wird dann auf eine Filzunterlage gekippt und in der Presse gegautscht. John Gerard (s.u.), der kürzlich für eine Nagelprägung von Günther Uecker Büttenbögen in Körpergröße des Künstlers (1,90 m) herstellte, maß 30 Liter Wasser, die bei diesem Vorgang aus einem einzigen Bogen herausgepresst wurden. Dass das körperliche Schwerstarbeit ist, kann man sich denken. Geschöpft wurde aus einer Kinderplanschbeckenwanne.
Die Pulpe, wie der Faserbrei genannt wird, kann aus Leinen-, Baumwoll- oder Flachsfasern bestehen. Es werden nicht nur Altfasern verwendet, auch in der Baumwoll-verarbeitung fallen Abfälle an, mittlere Faserlängen, die man in der Tuchproduktion nicht brauchen kann und die Rohstoff für Bütten werden. Die Fasern rauen sich im Holländer so weit auf, dass sie sich im Sieb ohne Leim oder andere Mittel fest miteinander verbinden. Zellstoffe (Holz) werden für die Büttenproduktion nicht verwendet. So versteht man auch, warum Druckgrafik auf Bütten gedruckt wird: Bütten vergilbt nicht, es hält Jahrhunderte. In unserer Ausstellung sind Aquarelle von Peter Zaumseil auf ca. 300 Jahre altem Bütten zu sehen: Leerseiten aus alten Aktenbeständen, die zur Platzersparnis später raus-geschnitten wurden.
Noch einmal zurück zu Gangolf Ulbricht, dessen handgeschöpfte Papiere und Kenntnisse weltweit gefragt sind: 1964 in Freiberg geboren, absolvierte er eine Papiermacherlehre in Schwedt/Oder, das bis heute mit vier eigenständigen Papierwerken zu den größten Papierstandorten Deutschlands gehört. Für Ulbricht war die dortige duale Ausbildung die einzige Möglichkeit, zum an sich vom DDR-Staat „sippenhaftungsbedingt“, wie er sagt, verhinderten Abitur zu kommen. Dann studierte er in Dresden Verfahrenstechnik. Am Tag nach der Wende 1989 zog er nach Berlin und entdeckte in Kreuzberg die Papierwerkstatt, die John Gerard dort aufgebaut hatte und die er später von diesem übernahm.
Einer seiner Schwerpunkte ist die Erzeugung von Papieren für Restaurierungen, ohne ihn gäbe es viele Bücher der ausgebrannten Anna-Amalia-Bibliothek nicht mehr. Anhand nur eines kleinen Fetzen des Buches bildet er das Papier originalgetreu nach, die Farbe, die Dicke, die Struktur. Oder sein dünnstes Papier, von dem wir auch eine Probe in unserer Ausstellung zeigen: Der Quadratmeter wiegt nur 2 Gramm, es ist so dünn, dass es, auf die eingerissene Seite eines alten Buches aufkaschiert, diese wieder zusammenhält, selbst jedoch unsichtbar bleibt. Er hat uns aber auch einen getrockneten, gewölbten Papierrest ausgeliehen, der so hart und doch so flexibel ist, dass er selbst mit dem Hammer kaum zu zerstören wäre.
Gangolf Ulbricht ist oft unsichtbarer Co-Produzent von Kunstwerken. In seiner Werkstatt bietet er Künstlern die Möglichkeit und Anleitung zum Pulp Painting – dem Malen mit unterschiedlich eingefärbtem Büttenbrei, der aus einer Stofftüte auf einen noch feuchten Büttenbogen gepresst wird wie die Buttercreme zur Verzierung der gleichnamigen Torte. Seine bedeutendste Co-Produktion leistete er mit der amerikanischen Künstlerin Jenny Holzer, die in seiner Werkstatt eine Serie von großformatigen Papiergüssen zur Geißelung der amerikanischen Foltermethode des Water Boarding im Irakkrieg fertigte: Sie bildete im Großformat die geschwärzten Akten der CIA für den US-Senat nach, in denen häufig nur noch ein Wort lesbar war: Water Boarding. Eine plausiblere Technik als das Schöpfen dieses Kunstwerks aus dem Wasser ist kaum denkbar.
Auch für die Büchergilde ist Ulbricht schon tätig gewesen: Für eine Serie von Einblattdrucken von René Char schöpfte er sowohl den farbigen Umschlagkarton wie auch das Innenbütten für Text und Orig.-Grafik, es hängen einige Beispiele in der Ausstellung. Was manchen Käufer/inne/n vielleicht gar nicht aufgefallen ist: Es sind je zwei Bögen mit vierseitig echtem Büttenrand. Diesen gibt es nur bei von Hand geschöpftem Papier. Die allermeisten Grafiken sind auf sogenanntes Maschinenbütten gedruckt. Aber lassen Sie sich nicht durch den Begriff „Maschine“ irritieren: Auch dort dauert die Produktion eines (meist großen, für den einzelnen Druck später geviertelten) Bogens drei bis vier Wochen. Nur wenige Papierfabriken weltweit schöpfen noch echtes Büttenpapier. Zu diesem kleinen Kreis gehören zwei Unternehmen mit Sitz in Deutschland: die 1584 gegründete Firma Hahnemühle in Dassel (bei Göttingen) und die 1903 in der Eifel gegründete Papierfabrik Zerkall.
Der große Maschinenbüttenbogen wird auf das benötigte Format nicht geschnitten, sondern gerissen. Durch die langen Fasern erhält man keinen glatten Rand, sondern dieser franst beim Reißen aus. Zu wissen, es ist Bütten! Hält man ein Büttenpapier gegen das Licht, wird manchmal ein „Wasserzeichen“ erkennbar. Ein solches entsteht, indem in das Schöpfsieb geformte Drahtstücke eingenäht werden. An dieser Stelle lagern sich beim Schöpfen weniger Fasern ab, d.h., dort ist das Papier dünner und lässt mehr Licht durch. Gangolf Ulbrich hat mir ein Papier mitgegeben, das sein eigenes fotografisches Portrait als Wasserzeichen trägt. Wie das entsteht? Dieses Geheimnis zu entschlüsseln reichte dieses Mal unsere Zeit nicht.
Denn von Kreuzberg aus, wo das Bethanien liegt, fuhr ich in ein 600 km weiter westlich gelegenes Dorf, das zu Rheinbach in der Nähe von Bonn gehört, wo der andere große Papierschöpfer, vor allem aber Papierkünstler in einem alten Fachwerkhaus lebt und arbeitet: John Gerard. Der wurde 1955 in Michigan/USA geboren und studierte am dortigen Kalamazoo College, wo er 1977 seinen Bachelor of Arts ablegte. Durch ein einjähriges Austauschstipendium kam er im gleichen Jahr an die Bonner Universität. Im Anschluss an eine fünfjährige Tätigkeit als Kurator am Museum der Cranbrook Academy of Art kehrte er 1984 nach Deutschland zurück und etablierte sich in West-Berlin als freischaffender Künstler. 1985 gründete er im Bethanien seine eigene Papierschöpferei, die später Gangolf Ulbricht übernahm. Denn 1992 zog es Gerard in die ruhige Beschaulichkeit der Voreifel, von wo aus er an einem selbst im Weltmaßstab einzigartigen Werk aus Papier arbeitet.
Es ist unfassbar, was dieser Künstler aus Papier schafft. Er möchte zeigen, dass Papier nicht allein Träger eines Bildes, sondern das Bild selbst sein kann. Das beginnt beim künstlerischen Eingriff in den Schöpfungsvorgang – dem Einarbeiten farbiger Fasern in noch differenzierterer Form als beim Pulp Painting, und endet nicht mit der Verarbeitung bereits vorhandener Papiere durch Reißen, Collagieren und andere Techniken. Seine Auseinandersetzung mit dem Material beginnt auf elementarster Ebene: bei der Papierfaser selbst.
Im Moment arbeitet er an einem Großprojekt unter dem Titel „Orbit“, bei dem ellipsenförmige Büttencollagen aus handgeschöpften farbigen Papierfetzen entstehen. Eine größere Anzahl davon hat erim Papiermuseum in Düren zu einer Rauminstallation arrangiert.
Daneben gibt es ein bislang 170 Bücher umfassendes buchkünstlerisches Werk von einer ungeheuren Vielfalt, einem Ideenreichtum und nie gesehener Ästhetik, größtenteils in eigener Gestaltung, z.T. in Zusammenarbeit mit anderen Künstlern. Man kann diese Bücher nicht beschreiben – weil sie sich oft allen bislang bekannten Kriterien entziehen. Gerard versucht auch beim Buch das Prinzip „Papier pur“ zu realisieren, d.h. seine Bücher sind oft nicht gebunden, sondern gesteckt oder gefaltet (werden aber mit schützender Leinenkassette geliefert). Auf die Spitze getrieben hat er das mit dem aus gutem Grund nur in einer Auflage von 5 Exemplaren existierenden Buch „Chaos“, das aus 10 ineinandergefalteten Bögen besteht, die sich gegenseitig halten und Buchbild und -struktur sind für ein ausgeklappt ca. 120 cm langes Leporello sind.
Eine hierzulande im Gegensatz zu Frankreich nicht sehr verbreitete Technik ist das Carborundum: Auf eine Kupfer-Druckplatte für die Radierung wird eine Mischung aus Schleifsand und einer Kunstharz-Paste aufgetragen, wodurch eine strukturierte Er-höhung erzielt wird. Die Abzüge auf dickem Büttenpapier hinterlassen eine starke Relief-Prägung, die den Reiz dieser Technik ausmacht. Die Radierung wird quasi dreidimensional. Wir haben einen Künstler, der sehr versiert in dieser Technik arbeitet, um Beiträge gebeten: Kurt Ries, 1955 in Zweibrücken geboren, ist zwar in allen grafischen Techniken zu Hause, beschäftigt sich aber seit 2008 besonders intensiv mit dem Carborundum. Er lebt und arbeitet in Königswinter, nur 30 km von Rheinbach entfernt.
Eine spezielle Form des Bütten wird in Japan hergestellt: Es entsteht aus dem Bast verschiedener Sträucher, ist sehr langfaserig und kann daher sehr, sehr dünn sein. Die Meisterin das japanischen Farbholzschnitts in Deutschland, die in Berlin lebende Künstlerin Eva Pietzcker, hat bei ihrer Ausbildung in Japan, in deren Genuss nur sehr wenige Ausländer überhaupt kommen, auch eigenes Japanbütten zu schöpfen gelernt und für unsere Ausstellung einen dort entstandenen Farbholzschnitt, in dessen Bütten noch eine Origamiform eingeprägt ist, zur Verfügung gestellt. Sie arbeitet grundsätzlich nur mit direkt aus Japan bezogenem Bütten.
Die Frage, wie der gleiche Holzschnitt auf unterschiedlichen Papieren „steht“ – treibt den Künstler Hans Ticha dazu, immer wieder mit den verschiedensten Papieren zu experimentieren. Den Grafikverleger treibt‘s zur Verzweiflung, wenn er beispielsweise Tichas Holzschnitt „Trio“ im Büchergilde Magazin auf rotes Japan gedruckt abbildet, sich dann aber die Hälfte der Auflage auf gelbes, oranges oder fliederfarbenes Bütten gedruckt erweist. Hier steht dieses Motiv nun auf vier verschiedenen Papieren gedruckt zur Schau – wie andere Motive Tichas auch.
Wie Planeten umkreisen Künstler die Werkstatt von Gangolf Ulbricht – einer, der in fußläufiger Nähe sein Fabriketagen-Atelier hat, ist Christian Rothmann (*1954 in Kedzierzyn, Polen). Rothmann wuchs ab 1965 im hessischen Langen auf, studierte 1976 zunächst an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach/Main und wechselte 1977 nach Berlin, wo er sein Studium 1983 an der Hochschule der Künste abschloss. Von 1983 bis 1995 unter-richtete er selbst an der HdK. Er nutzt die räumliche Nähe zum Bethanien für intensive Pulp Paintings, eine Technik, die seinem sehr freien, farbenfrohen Malstil entgegenkommt. Bei der Büchergilde erschien vor einigen Jahren eine serielle Auflage eines Papierguss-Motivs, deren letztes Exemplar Sie unten sehen, die neueren unikaten Arbeiten des Künstlers in dieser Technik sind zauberhaft schön, haben aber eben auch Unikatpreise.
Peter Zaumseil, in Elsterberg im Vogtland lebender Farbholzschnitt-Meister, hat sich bei Gangolf Ulbricht die Rohstoffe besorgt, gefärbte Büttenfasern, die er in der langen ausstellungs- und messefreien Coronazeit in Pulpe zurückverwandelt hat, um damit von ihm handgeschöpftes Trägerbütten zu „impfen“, wie er es nennt. Es sind beeindruckende pulpgemalte Landschafts-Papiergüsse entstanden, figurative Schablonengüsse, Holzschnitte auf rau Handgeschöpftem, sichtbare Lust, dem neuen Rohstoff zusätzliche Ausdrucksmöglichkeiten abzuringen.
Es gibt zahlreiche weitere ungewöhnliche Exponate: Hildegard Pütz, in Emmerich am Niederrhein zu Hause, prägt in ihre Radierung vom Rhein angeschwemmte Blechstücke, Hiltrud Schäfer (Oldenburg) collagiert eine Figur aus dem Rindenbast des Maulbeerbaumes, Faser für Japanbütten, auf übermalten Offsetdruck, Fides Becker prägt in eine Lithografie, die die Frau in der Doppelrolle als erotische Verführerin und Putzfrau zeigt, Besteck blind ins Bütten, Symbol für die scheinbar unsichtbare tägliche Hausarbeit, usw.
Wolfgang Grätz
240. Frankfurter Grafikbrief November 2021